Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Nachhaltige Entwicklung im russischen Stil

08.07.2019

Protest gegen den Bau Shutterstock/ Vikentiy Elizarov
25. Juni 2019 nahe St. Petersburg: Ein junger Mann protestiert gegen den Bau der Deponie in der Region Archangelsk.

Das ressourcenreiche Land hat die ökologische nachhaltige Entwicklung lange vernachlässigt, und die Regierung reagiert nur langsam auf die Bedürfnisse der Bürger.

In Russland stehen nachhaltige Entwicklung und insbesondere ökologische Nachhaltigkeit nicht ganz oben auf der Tagesordnung. Es gibt sicherlich einen positiven Wandel hin zu mehr Sorge rund um Umweltfragen unter russischen Bürgern. Auch erlässt die russische Regierung neue Gesetze, um die Umweltsituation im Land zu verbessern. Aber es gibt noch erhebliche Probleme, die gelöst werden müssen, bevor behauptet werden kann, dass sich die ökologische Nachhaltigkeit in Russland entwickelt.

Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung in Russland

Kurz nach dem Erdgipfel von Rio 1996 legte ein Dekret des russischen Präsidenten das Grundkonzept für den Übergang Russlands zu einer nachhaltigen Entwicklung dar. Neuere Dokumente führten das Konzept einer grünen Wirtschaft ein und lieferten detailliertere Informationen darüber, wie eine nachhaltige Entwicklung in Russland umgesetzt werden soll. Die Definition der nachhaltigen Entwicklung in Russland unterscheidet sich jedoch von den Definitionen in anderen europäischen Staaten.

Erstens sollte nicht vergessen werden, dass es sich um ein westliches Konzept handelt, das keine genaue Übersetzung ins Russische hat. Die russische "ustoichivoye razvitie" kann auch "stabile Entwicklung" bedeuten. Kein Wunder, dass Russen, die mit dem westlichen Umweltdiskurs nicht vertraut sind, das Thema falsch verstehen.

Das russische Konzept der nachhaltigen Entwicklung wird überwiegend im Hinblick auf ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum beschrieben, wobei wichtige soziale und ökologische Komponenten der nachhaltigen Entwicklung nicht berücksichtigt werden. Selbst Wladimir Putin thematisiert sehr oft stabiles (Wirtschafts-) Wachstum und spricht von "ustoichivoe razvitie".

Die „Müllproteste“ in Russland

Ein gutes Beispiel ist die Abfallwirtschaft. Etwa 50 Eisbären tauchten im Februar 2019 plötzlich in Belushya Guba auf, einer kleinen Stadt in der russischen Arktis auf der Insel Novaya Zemlya (Region Archangelsk). Die Nachricht verbreitete sich über die ganze Welt. Westliche Medienberichte behaupteten meist, dass es der Klimawandel war, der dies verursacht habe. Einer der Hauptgründe ist jedoch ein schlecht funktionierendes Entsorgungssystem in der Stadt: Die Eisbären kommen zu den Müllhalden und suchen nach Futter, besonders im Winter, wenn es knapp ist. Dies ist nur ein Beispiel, denn Probleme mit der Abfallwirtschaft gibt es im ganzen Land.

Die Abfallprobleme in Russland zeigen anschaulich, dass die russische Regierung der ökologischen nachhaltigen Entwicklung keine große Bedeutung beimisst. Viele ökologische Probleme werden von der russischen Regierung und den lokalen Behörden übersehen, wie zum Beispiel der Abfallwirtschaft.

Da die russische Regierung den Müllproblemen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat, protestierten Bürger vieler russischer Regionen zuerst 2018 und dann wieder 2019. Seit Anfang 2018 ist die russische Regierung in mehr als 70 Regionen mit Protesten konfrontiert. Die größten fanden in Archangelsk (westlicher Teil der russischen Arktis) und Volokolamsk (Zentralrussland) statt.
 
Im März 2018 protestierten Bürger von Wolokolamsk, einer kleinen Stadt in der Nähe von Moskau, gegen die Deponie Yadrovo. Dreh- und Angelpunkt des Protestes war die Tatsache, dass eine Reihe von Kindern Anzeichen einer schweren Vergiftung zeigten, nachdem sie den Emissionen der dort deponierten Abfälle ausgesetzt waren. Diese Deponie wurde 2008 errichtet. Von 2013 bis 2017 wurden 24 von 39 Deponien im Moskauer Gebiet geschlossen, so dass Yadrovo seitdem viel mehr Hausmüll aufnehmen muss.

Im Jahr 2011 erhielt sie „nur“ 200.000 Tonnen feste Abfälle, im Jahr 2016 bereits waren es bereits 600.000 Tonnen: Die Deponie war mit Abfällen überfüllt. Im Jahr 2018 waren Kinder stark von den giftigen Emissionen der auf dieser Deponie deponierten Abfälle betroffen.

Es ist schwer zu sagen, ob sich die Situation seit Beginn der Proteste deutlich verbessert hat. Die Deponie wurde nicht geschlossen, sondern es wurden nur einige Maßnahmen ergriffen, um die toxischen Emissionen zu reduzieren und kurzfristig zu verhindern.
 
In Archangelsk dauern die Proteste an. Im Juni 2019 ist die Situation dort noch schlimmer als im Jahr 2018. Seit Sommer 2018 sind die Menschen gegen den Bau der Deponie Shiyes in der Region Archangelsk vorgegangen. Im Februar 2019 protestierten rund 29.000 Menschen gegen den Bau. Nicht nur die Menschen in Archangelsk, sondern auch Bürger kleinerer Städte und Dörfer kämpfen aktiv gegen den Bau der Deponie. Genauso Menschen der benachbarten Regionen, wie etwa in der Republik Komi, protestieren gegen die Deponie. In Shiyes blockierten sie die Zufahrtsstraßen, um Lkw mit Baumaterialien für die Baustelle zu stoppen.

Die Deponie Shiyes wird eine Müllverbrennungsanlage und keine Abfallrecyclinganlage sein, so dass die Bürger der Region Archangelsk äußerst besorgt über mögliche Umweltkatastrophen und gefährliche Emissionen sind. Die Region Archangelsk ist besonders anfällig für alle Arten von Umweltverschmutzung, da das Tempo des Klimawandels in der Arktis doppelt so schnell ist wie im globalen Durchschnitt.

Die Verunreinigung durch die Deponie Shiyes könnte in Flüsse gelangen und schließlich in die Barentssee fließen, mit negativen Auswirkungen auf alle arktischen Gebiete. In diesem Fall scheint es, dass die Bürger von Archangelsk nicht leicht nachgeben werden. Laut "The Barents Observer" sagte der Gouverneur der Region Archangelsk, Igor Orlov, „dass das Schicksal des Deponieprojekts bis Ende 2019 ungeklärt bleiben wird, bevor nicht alle notwendigen Unterlagen verfügbar sind". Das Problem der Deponie Shiyes bleibt zumindest für eine Weile offen.

Offizielle Antworten auf die Proteste

Wie hat die russische Regierung auf die Proteste reagiert? Im Januar 2019 wurde eine neue Abfallreform verabschiedet. Nach dieser Reform zahlen die Menschen mehr für das Recycling von festen Siedlungsabfällen und erhalten neben ihren Häusern neue Container, damit sie den Müll sortieren und sicher sein können, dass er danach ordnungsgemäß recycelt wird. Es ist kaum zu sagen, ob es sich um eine "Antwort" auf die Proteste handelte oder ob es nur ein Zufall war, dass diese Reform kurz nach den Protesten verabschiedet wurde.

Jedenfalls wurde die Reform nicht begeistert angenommen, da sich in den meisten Regionen die Situation mit dem Müll nicht geändert hat und gleichzeitig die Versorgungskosten gestiegen sind. Die Menschen beschweren sich immer noch über angesammelten Hausmüll neben ihren Häusern, auch wenn sie regelmäßig für einen Abholservice bezahlen. Wichtig ist, dass die Idee der Sortierung des Hausmülls in Russland immer beliebter wird, inspiriert von Beispielen aus westlichen Ländern. So setzten sich die "Müllproteste" im Februar 2019 fort. Der 3. Februar 2019 war der "Tag des Ökoprotests" in mehr als 70 Städten Russlands. Die Initiative hieß "Russland ist kein Schrottplatz" und zielte darauf ab, die Behörden auf das Problem des Hausmülls aufmerksam zu machen.

Neues Umweltbewusstsein an der Basis

Die gute Nachricht ist, dass es einige Schritte in Richtung einer partizipativen Kultur unter den russischen Bürgern gibt. Im Allgemeinen gibt es unter den russischen Jugendlichen einen Trend zur Umweltfreundlichkeit. Allerdings sind sich einige der Teilnehmer des "Ökoprotests" des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung nicht bewusst.

Aber auch in diese Richtung gibt es positive Veränderungen: Im Mai 2019 war ich Teilnehmerin des Deutsch-Russischen Jugendforums. Das Thema des Forums war "nachhaltige Entwicklung" und junge Menschen aus verschiedenen russischen Regionen sprachen leidenschaftlich über diejenigen, die die Idee eines umweltfreundlichen Lebensstils in ihren Städten verbreiten. Es gibt sogar 17 junge Botschafter für die 17 SDGs in Russland im Vergleich zu Deutschland, das nur zwei Jugenddelegierte hat.

Im Allgemeinen ist dies ein gutes Zeichen dafür, dass sich die Menschen heutzutage viel mehr um die Umwelt sorgen. Obwohl es den Anschein hat, dass die russische Regierung nicht bereit ist, Umweltfragen genügend Aufmerksamkeit zu schenken, vor allem wegen wirtschaftlicher Probleme, gibt es mehr Russen, die ihre kleinen, aber sinnvollen Aktionen auf den Tisch bringen.

Share via email

Copied to clipboard

Drucken