Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Mehr Teilhabe in der Energiewende: Wie Bürgerenergiegenossenschaften neue Zielgruppen erreichen

14.03.2024

Bis 2030 soll 80 Prozent des Stroms in Deutschland aus erneuerbaren Energien stammen. Einen erheblichen Beitrag für eine partizipative Energiewende sollen Bürgerenergiegesellschaften leisten, deren Förderung mit der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2023 verstärkt wurde. Ein Blick auf existierende Bürgerenergie-Projekte zeigt jedoch, dass  nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen partizipieren und profitieren. Wenn Bürgerenergie zu einer breiten Stütze der Energiewende werden soll, muss die Politik eine größere Diversität unter den Mitgliedern und die Gleichstellung der Geschlechter fördern sowie Präferenzen der Mitglieder stärker berücksichtigen. 

Bürgerenergie-Projekte bieten die Chance, die Energiewende mitzugestalten.
Bürgerenergie-Projekte bieten die Chance, die Energiewende mitzugestalten.

Hinter der Bezeichnung „Bürgerenergie“ verbergen sich verschiedene Arten von Projekten, von denen einige eher basisorientiert sind („Graswurzel-Bewegung“), während andere als groß angelegte Energieprojekte professioneller verwaltet werden. So haben einige engagierte Bürgerinnen und Bürger in Gemeinden etwa aus Umweltgruppen oder Heimatvereinen heraus Energiegenossenschaften gegründet, während andere, meist größere Projekte durch Gesellschaften, Banken, öffentliche Einrichtungen oder Unternehmen initiiert wurden.

Infolge der stärkeren Förderung sowohl durch Einspeisevergütungen als auch durch eine Ausnahme von der Ausschreibungspflicht könnte es in Deutschland einen neuen Boom der Bürgerenergie geben.  Zusätzlich soll mithilfe einer neuen finanziellen Kompensation für betroffene Kommunen die Akzeptanz von Wind- und Solaranlagen erhöht werden. Andererseits könnte durch dieses schlichte Verfahren der Abgabe von Erlösen das gesellschaftlich wertvolle demokratische Moment der Graswurzel-Bewegung verloren gehen. Was könnte daher die stärkere Förderung von Bürgerenergie für das Ziel bedeuten, mehr „Energiedemokratie“ zu etablieren?

Sozial benachteiligte Gruppen ansprechen

Vor dem Hintergrund dieser Frage untersuchten Jörg Radtke vom Forschungszentrum für Nachhaltigkeit – Helmholtz-Zentrum Potsdam (RIFS) und Nino Bohn von der Universität Siegen umfangreiche Daten aus einer Umfrage unter den Mitgliedern in 85 Bürgerenergie-Projekten in Deutschland. Die Ergebnisse zeigen, dass Bürgerenergie nicht automatisch die Energiedemokratie stärke, so Jörg Radtke: „Die Politik muss die Grundlagen dafür schaffen, dass alle, also auch sozial benachteiligte Gruppen angesprochen werden. Dies sind im Falle von Bürgerenergie insbesondere jüngere, weibliche oder nicht-binäre Personen sowie Menschen mit geringem Einkommen. Außerdem müssen auch Bevölkerungsgruppen besonders berücksichtigt werden, die von der Umstellung auf neue Heizsysteme und Elektromobilität negativ betroffen sind.“

Die Forschenden unterteilten die Mitglieder nach verschiedenen Charakteristika: Alter, Geschlecht, Einkommen, Ausbildung und persönliche Einstellungen – also ob die Mitgliedschaft zum Beispiel durch ökologische Werte, Renditewünsche oder der „Energie in Bürgerhand“-Idee motiviert ist. Demografisch zeigt sich: Männer, ältere sowie akademisch gebildete Menschen sind im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen stark überrepräsentiert.

„Das ist in der internationalen Forschung kein neuer Befund, überall finden sich ähnliche Werte. Doch die vertiefte Auswertung zeigt eine weitere, noch schwerer wiegende Problematik auf: Es finden sich teils gravierende Unterschiede bei den Einstellungen zu Bürgerenergie zwischen den unterschiedlichen Alters-, Bildungs- und Geschlechtergruppen. Mit anderen Worten: Dadurch, dass jüngere Menschen und Frauen unterrepräsentiert sind, sind auch deren Vorstellungen, wie ein Bürgerenergie-Projekt gestaltet sein sollte, schwächer vertreten. Das wäre unproblematisch, wenn diese deckungsgleich mit denen der dominierenden Gruppen wären, doch dem ist nicht so: Bürgerenergie bedeutet gerade für jüngere und weibliche Bevölkerungsgruppen etwas anderes als für ältere Männer“, sagt Radtke.

Die Ergebnisse im Detail:

1. Das Alter ist der wichtigste Faktor, der die Einstellung zu Bürgerenergieprojekten beeinflusst. Ältere Mitglieder betonen idealistische Motive starker, sie sehen Bürgerenergie als eine Art demokratische Praxis, die die lokale Gemeinschaft fördert. Jüngere Mitglieder haben eine eher pragmatische Einstellung, sie fühlen sich der lokalen Gemeinschaft weniger verpflichtet. 

2. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle: Männer und Frauen haben zwar ähnliche Motivationen und Prioritäten, Frauen stellen den Wert demokratischer Mitbestimmung jedoch stärker in den Vordergrund, während Männern die finanziellen Erträge des Projektes wichtiger sind. Für Frauen ist ein Bürgerenergie-Projekt mehr ein sozialer Ort des Miteinanders, der gelebten demokratischen Gemeinschaft. Männer hingegen betonen zwar ideelle Werte als Ausgangsmotiv, doch in der Ausführung und Praxis der Organisation ist ein professionelles Management für sie entscheidend.

3. Das Einkommen macht ebenfalls einen Unterschied, hat aber weniger Einfluss als Alter und Geschlecht. Mitglieder mit höherem Einkommen sind mehr an Rendite interessiert und weniger idealistisch eingestellt. 
4. Bei der Motivation zeigt sich, dass akademisch gebildete Mitglieder mehr von den Vorteilen der regionalen Wertschöpfung überzeugt sind, während Nicht-Akademikerinnen und Nicht-Akademiker das Gemeinschaftsgefühl in Bürgerenergie-Projekten in den Vordergrund stellen.

Damit die Projekte integrativer und vielfältiger werden, empfehlen die Autoren, dass Bürgerenergie-Projekte gezielte Angebote für nicht akademisch gebildete Menschen schaffen und eine Gemeinschaftsstruktur aufbauen, die auch für Menschen mit weniger Vorwissen einladend ist. Zudem müssen die Angebote mehr bieten als eine rein finanzielle Investition, aber andererseits auch nicht den Eintritt in einen elitären Club von Altruisten bedeuten. Neue Mitglieder sollten sich repräsentiert wissen und mit dem Projekt identifizieren können. Bislang machen die beteiligten Bürgerinnen und Bürger nur selten von ihren Mitbestimmungsrechten Gebrauch und ordnen sich den Vorständen weitestgehend eher unter. Mentoren- und Diversitätsprogramme könnten aber neue Zielgruppen ansprechen und aktive Inklusionsarbeit leisten.

Radtke, J., & Bohn, N. S. (2023). Mind the gap: Community member perceptions of shortcomings in diversity and inclusivity of local energy projects in Germany. Utilities Policy, 85: 101686. https://doi.org/10.1016/j.jup.2023.101686

Kontakt

Jörg Radtke

Dr. Jörg Radtke

Projektleiter
joerg [dot] radtke [at] rifs-potsdam [dot] de
Bianca Schröder

Dr. Bianca Schröder

Referentin Presse und Kommunikation
bianca [dot] schroeder [at] rifs-potsdam [dot] de
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